Computerunterstützter Musikunterricht (B. Enders)
Füttert man den Computer mit einem geeigneten Lernprogramm, dann
ist er ein pädagogisch vielversprechendes Lehr- und Lernmittel, das
auf den ersten Blick mit dem Schulbuch oder audiovisuellen Unterrichtsmedien
verglichen werden kann, bei näherem Hinsehen jedoch eine Fülle
weitergehende Möglichkeiten bei der Vermittlung von Unterrichtsinhalten
bietet.
Viele hardware- und softwaretechnisch bedingte Grenzen, die früher
einen praktikablen und effizienten Einsatz von Lernprogrammen verhinderten,
entfallen heute, da schon Personal Computer der untersten Preisklasse bessere
Voraussetzungen für die Gestaltung anspruchsvoller Lehr- und Lernprogramme
bieten als die zimmergroßen, komplizierten und superteuren EDV-Anlagen
der 60er Jahre.
Zum Beispiel werden heute nicht nur die computertechnisch ursprünglich
begünstigten alphanumerischen Zeichen, sondern auch Symbole, Zeichnungen,
Bildern und auch Notenzeichen relativ problemlos verarbeitet bzw. in akzeptabler
Auflösung abgebildet.
Da sich belebende Geräusche, Klänge und musikalische Einlagen
insbesondere bei Computerspielen als unentbehrlich erwiesen, gehören
Soundchips oder audiospezifische Wandlerbausteine mittlerweile zur Grundausstattung
vieler Home und Personal Computer.
Eine äußerst wichtige Voraussetzung für Musiklernprogramme
ist die technisch relativ einfach zu realisierende Verknüpfungsmöglichkeit
von Computer und MIDI-Instrument, denn dadurch kann der Autor eines Musiklernprogramms
auch die musikpraktischen Anteile betonen und der Dialog zwischen Computerprogramm
und Lernendem findet nicht mehr nur über die üblichen Eingabegeräte
(alphanumerische Tastatur, Maus usw.) statt, sondern eben musikspezifisch
über eine Klaviatur oder ein anderes MIDI-Eingabeinstrument (z.B.
MIDI-Gitarre). MIDI ist ein Akronym aus Musical Instrument Digital Interface},
d.i. eine international genormte digitale Schnittstelle für Musikinstrumente,
die einen ausreichend schnellen Transfer von Musikdaten, z.B. von Tondauern,
erlaubt.
Sehr von Vorteil ist ein angeschlossenes MIDI-Instrument im übrigen
auch für die Tonausgabe, da es fast immer erheblich besser klingt
als die in Computern integrierten Soundchips.
Im Vergleich zum Lehrbuch hat das Musiklernprogramm eine Reihe von
gewichtigen Vorteilen zu bieten, da durch die moderne Hardware der jedermann
verfügbaren Computer eine beeindruckende Vielzahl von pädagogisch
nutzbaren Funktionen bereitstehen. Während das Buch die benötigten
Unterrichtsinhalte im wesentlichen nur in Form unveränderlich angeordneter
Texte und Abbildungen anbieten kann, verfügt ein Computersystem zusätzlich
über Möglichkeiten, Klänge auszugeben, beispielsweise um
passende Klangbeispiele hörbar zu machen oder Musikstücke abzuspielen.
Noten, Partituren, bewegte Graphiken (Animationen, Trickfilme) oder komplette
Bildsequenzen können abgebildet, geeignete Musikinstrumente gesteuert
oder das Spiel auf einem Keyboard überwacht werden.
Ein Computerlernsystem mit MIDI-Keyboard leistet also in vieler Hinsicht
Ähnliches wie eine Medienkombination aus Buch, Partitur, Cassetten-
oder Videogerät und (!) Musikinstrument, und das bei einem vergleichsweise
geringen Hardware- und Kostenaufwand. Ein Arbeitsplatz, bestehend aus graphik-,
sound- und MIDI-fähigem Computersystem mit flimmerfreiem S/W-Monitor,
Mausbedienung, Laufwerk sowie einem einfachen MIDI-Keyboard mit Lautsprecher,
das den gestellten Ansprüchen voll genügt, kostet ohne Software
weniger als DM 1500,--.
Jedoch gibt es einen wesentlichen Unterschied zu einem wie auch immer
aufgebauten Lehrgang mit konventionellen Medien: Das computergesteuerte
System bietet die prinzipielle Möglichkeit der Interaktion von Lernendem
und Lernprogramm, die Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung des Lernvorgangs
durch den Schüler und der flexiblen Reaktion des Programms. D.h.,
die Informationen und Inhalte einer beliebigen Lernsequenz werden nicht
notwendig in einer starren, präfixierten Reihenfolge angeboten, vielmehr
kann sich der konkrete Unterrichtsablauf an den Wünschen und Bedürfnissen
des Schülers orientieren. Zum Beispiele ist das Lerntempo völlig
frei bestimmbar, Teilbereiche der Lehrsequenzen können übersprungen,
andere durch die Einblendung weiterer Erklärungen und Übungen
intensiver behandelt werden.
Eine serielle Darbietung des Stoffes, wie bei Lehrbuch, Video- und
Tonband systembedingt üblich, ist zwar nicht ausgeschlossen, aber
eben nicht konstitutiv und aufgrund der adaptiven Möglichkeiten eines
computergesteuerten Lernsystems im allgemeinen als methodisch ungeschicktere
Lösung anzusehen.
Zur Erstellung, Erprobung und Bewertung von interaktiven und adaptiven
Musiklernprogrammen, die sich für die Erarbeitung von musiktheoretischen
und -praktischen Grundlagen eignen sollen, wurde 1986 vom Verfasser an
der Universität Osnabrück das CAMI-Projekt (CAMI = Computer Aided
Music Instruction) initiiert, an dem Musik- und Informatikstudenten mitarbeiten
unter schwerpunktmäßiger Beteiligung von Fachkollegen.
Da ein musikspezifisches, den genannten technisch-funktionalen und
methodisch-didaktischen Kriterien genügendes Autorensystem nicht existierte,
wurde im Rahmen des Projekts zunächst die Autorensprache CAMI-Talk
als einfach zu handhabende Programmierumgebung mit allen wichtigen Funktionen
für die Gestaltung von Lernprogrammen entwickelt, natürlich auch
von Lernprogrammen, die nicht ausgesprochen musikpädagogische Intentionen
verfolgen.
Lernprogrammautoren sind normalerweise auf sogenannte Autorensysteme
angewiesen, wenn nicht auf die üblichen Hochsprachen (BASIC, C, Pascal
etc.) zurückgegriffen werden soll, die gediegene Programmiererfahrungen
erfordern. Autorensysteme sind Programmierwerkzeuge, die es auch dem Nichtinformatiker
unter den Pädagogen erlauben sollten, auf relativ unkomplizierte Weise
interaktive und adaptive Lernprogramme mit durchdachten didaktisch-methodischen
Gestaltungsprinzipien zu schreiben.
CAMI-Talk ist eine mächtige Sprache, die es dem Autoren gestattet,
seine didaktischen und methodischen Vorstellungen mit einfachen, natürlichsprachig
formulierten Befehlsfolgen (in deutsch) auf einzelnen Lehrkarten zu gestalten,
wobei die Autorensprache prinzipiell keine Einschränkungen im Vergleich
zu einer normalen Hochsprache kennt.
Viele grundlegende Vorgänge werden automatisch geregelt oder wirksam
unterstützt, wie z.B. die Verwaltung der Lehrkarten mit allen Verzweigungen
der notwendigen Lernwege, die Speicherung und Auswertung der individuellen
Personen- und Leistungsdaten zur flexiblen Steuerung der Lernprozesse,
der Abruf von Reaktionen mit zufällig variierenden Antworttexten und
persönlicher Anrede, die Anzeige von anwählbaren, graphisch unterschiedlich
zu gestaltenden Auswahlfeldern, Befehlsauslösung über Pull-Down-
oder Pop-Up-Menüs mit der Maus, die computerberechnete Abbildung der
Musikbeispiele in normaler Notenschrift sowie die Darstellung von beliebigen
Abbildungen (auch in Farbe), Trickfilmen, visuell reizvollen Graphikeffekten
und natürlich die Ausgabe von Texten in beliebigen Formaten und Schriftarten.
Alle Musikbeispiele werden simultan über den internen Soundchip
des Computers (dreistimmig) und über beliebige MIDI-Instrumente (achtstimmig)
ausgegeben. Gesamplete Originalklänge (z.B. von einem Musikinstrument)
bzw. gesprochene Wörter können über den Soundchip abgespielt
werden.
Die Bedienung der so entstandenen Lernprogramme ist besonders einfach,
sie beschränkt sich - vom Keyboardspiel einmal abgesehen - im wesentlichen
auf das Führen der Maus, die zum Anklicken der auf dem Bildschirm
sichtbaren Auswahl- oder Antwortfelder, Bildelemente, Takte, Noten und
Akkorde dient.
Bei der Arbeit mit einem Lernprogramm wird der Schüler zum Üben
aufgefordert, er ist immer selbst aktiv tätig, indem er z.B. vorgeschlagene
Antworten auswählt (mit der Maus) oder Fachbegriffe eintippt (die
das Programm auch bei fehlerhafter Eingabe noch erkennt) und indem er auf
dem musikspezifischen Eingabegerät, dem angeschlossenen Tasteninstrument,
musikalische Eingaben macht (etwa eine Kadenz spielt), deren Richtigkeit
das Lernprogramm überprüfen kann.
Texteingaben werden mit Hilfe einer fehlertoleranten Analyseroutine
(Parser mit mehrstufiger Fehlermeldung) ausgewertet, so daß das Programm
eine Schülerantwort ansatzweise interpretieren kann. In ähnlicher
Weise können musikalische Eingaben auf einem MIDI-Keyboard vom Programm
überprüft (z.B. ob eine Kadenz oder eine Tonleiter richtig gespielt
wurde) und Hinweise auf fehlerhafte Töne gegeben werden.
Einen günstigen Ausgangspunkt verspricht der in Osnabrück
gewählte Ansatz, rechnergesteuerte Analysen über die Auswertung
von eingehenden MIDI-Daten zu versuchen, da eine tonsystemliche Organisation
und damit eine Selektion der möglichen musikalischen Informationen
(bzw. eine Datenreduktion) im Sinne der traditionellen musikästhetischen
Strukturen bereits vorliegt und eine kognitive Abbildung der musikalischen
Prozesse im Rahmen musikanalytischer Beschreibungen verhältnismäßig
günstige Voraussetzungen findet, die zumindest im Rahmen des computerunterstützten
Lernens sinnvoll angewendet werden kann.
Da in das Computerkolleg Musik musikinformatorische und musikpädagogische
Interessen und Zielsetzungen gleicherma×en einflie×en, wurden
nach der Entwicklung eines ausreichenden Befehlsvorrats von CAMI-Talk mit
dem didaktisch-methodischen Entwurf bzw. der programmiertechnischen Umsetzung
von interaktiven Musiklernprogrammen begonnen, ein Vorhaben, das von dem
Musikverlag B. Schott's Söhne unterstützt wurde.
Ergänzend zu den Hörtrainingsprogrammen entstehen Unterrichtsprogramme
mit wabenförmig ineinandergreifenden Lern- und Übungssequenzen,
die in die allgemeine Musiklehre einführen und den in den Gehörbildungsteilen
vorausgesetzten Lernstoff methodisch aufbereiten und vertiefen. Die von
Sabine Schutte entwickelte didaktisch-methodische Konzeption der Unterrichtsteile
ist geeignet, dem Benutzer der Hörtrainingsprogramme ein entsprechend
fundiertes Grundwissen zu vermitteln. Die Einsicht in theoretische Zusammenhänge
erleichtert das Hören und umgekehrt findet ein guter Hörer rascher
Zugang zur Musik mit Hilfe einer soliden Kenntnis der allgemeinen Musiklehre.
Die Qualität der in einem Lehr-/Lernprogramm verwirklichten Gestaltungsprinzipien,
also die didaktisch-methodische Nutzbarkeit und damit letztlich die Höhe
des Lernerfolgs hängen primär von den pädagogischen Fähigkeiten
des Programmautors ab, von seinem Methodenverständnis, von seinem
didaktisch-methodischen Ideenreichtum, von seinem Einfühlungsvermögen
in die Situation des Lernenden, von seiner Motivationskraft, von seiner
prognostischen Kompetenz.
Ein Lernprogrammautor befindet sich daher im Prinzip in einer ähnlichen
Situation wie ein Lehrender, der eine Unterrichtsstunde, ein Seminar etc.
sorgfältig vorbereitet. Beide müssen sich eine Schülerreaktion
im voraus vorstellen können, motivierende Impulse setzen, Lob und
Tadel abwägen und denkbare Lernwege methodisch geschickt aufbereiten.
Der Computer ist nur das technische Medium, mit dessen Hilfe der Lernprogrammautor
als Pädagoge mit dem Schüler als dem Lernenden kommuniziert,
so wie ein Buchautor seine Gedanken und Ideen über das Buch als Medium
an den interessierten Leser weitergibt. (Nicht der Computer ist folglich
der Lehrende, wie gelegentlich zu hören ist, sondern immer noch der
Pädagoge, der hier als Programmautor auftritt.)
Im Unterschied zum Lehrer oder Dozenten legt sich der Programmautor
durch das Schreiben eines Programms allerdings fest, er schafft eine präfixierte
Lernumgebung, die zwar nicht unabänderlich ist und z.B. auf Rückmeldungen
hin optimiert werden kann, die aber im konkreten Lernfall exakt nur jene
Lernprozesse erlaubt, die ihr vom Programmautor zugewiesen wurden. Da der
Programmautor nicht wie der Lehrende auf den spontanen Einfall im Unterrichtsgeschehen
setzen darf oder mit den im Unterrichtsalltag immer auftretenden Anregungen,
Einfällen und Wünschen der Schüler, Studenten oder Lehrgangsteilnehmer
rechnen kann, werden an seine pädagogischen Vorüberlegungen,
an seine Fähigkeiten zur didaktisch-methodischen Strukturierung eines
Stoffes und Erzeugung einer motivierenden Lernumgebung, ungleich höhere
Anforderungen gestellt. Er muß sehr viel genauer als der Lehrer den
möglichen Unterrichtsverlauf abschätzen und den optimalen Vermittlungsweg
vorausplanen.
Soll das Lernprogramm nicht zu starr ausfallen, müssen z.B. flexible
Verzweigungen des Lernwegs und altersabhängige Darbietungsvarianten
vorgesehen werden, deren Zahl und Vielfalt aus arbeitsökonomischen
und technischen Gründen natürlich nicht beliebig gesteigert werden
kann.
Endgültige Aussagen über Sinn und Nutzen von Lernprogrammen
und kritische Stellungnahmen können zur Zeit allerdings erst dann
gemacht werden, wenn fundierte, auf empirischen Untersuchungen basierende
Befunde einer noch zu leistenden musikpädagogischen Unterrichtsforschung
vorliegen. Im Rahmen des Computerkollegs Musik ist eine systematische Auswertung
von Fragebögen geplant. Zwar basiert die konkrete Gestaltung der bisher
mit CAMI-Talk realisierten Lerneinheiten verständlicherweise auf heuristischen
Lehrmodellen, dennoch sind erste Rückmeldungen von Musikstudenten
sehr ermutigend.
Einige Gehörbildungsprogramme wurden auf der vom Niedersächsischen
Kultusminister im Rahmen einer Sonderaustellung der Messe INFA '88 in Hannover
unter dem Motto 'Lernen am Computer' als Beispiel für die wachsende
Bedeutung der neuen Technologien für den Musikunterricht ständig
vorgeführt. Das Autorensystem CAMI-Talk und weitere Applikationen
wurden auch auf der CeBIT '89 am Gemeinschaftsstand der Niedersächsischen
Hochschulen und auf der Osnabit '89 als Forschungsbeitrag der Universität
Osnabrück mit großem Erfolg gezeigt.
Eine unterrichtspraktische Erprobung der pädagogischen Möglichkeiten
der neuen Musiktechnologien ist dringend nötig. Es scheint unvermeidlich,
daß sich jeder Lehrende in Zukunft mit den neuen Unterrichtsinhalten
und -methoden aktiv auseinandersetzen muß, indem er sich den pädagogischen
Herausforderungen der technologisch bedingten musikkulturellen Veränderungen
mit der erforderlichen didaktisch-methodischen Flexibilität, der nötigen
Motivation und dem notwendigen Verantwortungsbewußtsein für
die Bedürfnisse der ihm anvertrauten Generation stellt.